Zur Schadensersatzpflicht eines Sozialhilfeträgers
April 2019 - Der Entscheidung lag der folgende Fall zugrunde: Der Kläger bezog seit dem Jahr 2004 wegen einer Erwerbsminderung Grundsicherungsleistungen. Dabei wurde er von seiner als Betreuerin eingesetzten Mutter vertreten. Erst im Jahr 2011 wurde diese von einer neuen Sachbearbeiterin darauf hingewiesen, dass auch Ansprüche auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehen würden.
Der Kläger verlangt nun als Schadensersatz die Differenz zwischen der erhaltenen Grundsicherung und der entgangenen Rentenzahlungen. Nun obliegen dem Bürger gegenüber Sozialleistungsträgern gemäß den §§ 60 ff SGB I diverse Mitwirkungspflichten, umgekehrt bestehen aber für Sozialleistungsträger ebenfalls erhebliche Pflichten, damit der Bürger sich im unübersichtlichen System der verschiedenen Leistungen zurechtfinden und sachdienliche Anträge stellen kann.
Der BGH führt in Bezug auf den hier entschiedenen Fall u.a. folgendes aus:
„… eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken (z.B. den Risiken der Renten- und Krankenversicherung), aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen (hier: Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff SGB XII und Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI). (…)
Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger, hier die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt, anzuwenden hat. Der Leistungsträger kann sich nicht auf die Beantwortung konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten beschränken, sondern muss sich bemühen, das konkrete Anliegen des Ratsuchenden zu ermitteln und – unter dem Gesichtspunkt einer verständnisvollen Förderung – zu prüfen, ob über die konkrete Fragestellung hinaus Anlass besteht, auf Gestaltungsmöglichkeiten, Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit dem Anliegen verbinden.
Vor diesem Hintergrund geht das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass § 14 Satz 1 SGB I, wonach jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch hat, nicht nur diejenigen Leistungsträger, denen gegenüber Rechte geltend zu machen oder Pflichten zu erfüllen sind, zur Beratung verpflichtet sondern Beratungspflichten auch eine „andere Behörde“ (hier: Grundsicherungsamt bzw. Sozialamt) treffen können. Letzteres kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Zuständigkeitsbereiche beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die „andere Behörde“ im maßgeblichen Zeitpunkt auf Grund eines bestehenden Kontakts der „aktuelle Ansprechpartner“ des Berechtigten ist und auf Grund der ihr bekannten Umstände erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage besteht. (…)
Eine solche Spontanberatungspflicht eines Leistungsträgers, der kein Rentenversicherungsträger ist, in einer rentenversicherungsrechtlichen Angelegenheit kommt aber nur dann in Betracht, wenn die in dem konkreten Verwaltungskontakt zutage tretenden Umstände insoweit eindeutig sind, als sie ohne weitere Ermittlungen einen dringenden rentenversicherungsrechtlichen Beratungsbedarf erkennen lassen.“
Grundsätzlich positiv ist es, dass der BGH nicht etwa eine Schadensersatzpflicht verneint, weil der Kläger durch eine Betreuerin vertreten wurde, also nicht davon ausgeht, dass Betreuer von selbst alle denkbaren sozialrechtlichen Ansprüche erkennen können müssen. Man muss aber damit rechnen, dass im Fall von Berufsbetreuern (u.U. je nach der Ausbildung des jeweiligen Betreuers) strengere Maßstäbe angelegt werden würden. Der BGH weist in seiner Entscheidung nämlich auch gerade darauf hin, dass es sich in dem entschiedenen Fall um eine ehrenamtliche Betreuerin handelte, er führt dazu folgendes aus:
„Unabhängig davon kann von einer nichtprofessionellen (ehrenamtlichen) Betreuerin regelmäßig nicht erwartet werden, dass sie über weitergehende Rechtskenntnisse verfügt als der fachlich zuständige Mitarbeiter einer Sozialbehörde und von sich aus die in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten überblickt, zumal der Sinn und Zweck der Beratungspflicht nach § 14 SGB I gerade darin besteht, sicherzustellen, dass der Gesuchsteller mit seinem Anliegen verständnisvoll gefördert und auf bestehende (alternative) Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen wird.“
In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass ab dem 1.1.2020 gem. dem dann in Kraft tretenden § 106 SGB IX sehr umfassende Beratungs- und Unterstützungspflichten für den Träger der Eingliederungshilfe gelten werden. Es lässt sich absehen, dass es dann Auseinandersetzungen darüber geben wird, wer für Beratung und Unterstützung im Einzelfall zuständig ist – der Träger der Eingliederungshilfe oder ein Betreuer. Wegen der Nachrangigkeit der Betreuung wird man wohl davon ausgehen können, dass es sich vorrangig um eine Aufgabe des Trägers der Eingliederungshilfe handeln wird und der Betreuer vor allem dafür zu sorgen hat, dass dem Leistungsberechtigten die gesetzlich festgelegten Beratungs- und Unterstützungsleistungen auch tatsächlich gewährt werden.
Zu den Informations- und Beratungspflichten allgemein heißt es im SGB I:
„§ 14 SGB I Beratung Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.
§ 15 Auskunft
(1) Die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung sind verpflichtet, über alle sozialen Angelegenheiten nach diesem Gesetzbuch Auskünfte zu erteilen.
(2) Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf die Benennung der für die Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger sowie auf alle Sach- und Rechtsfragen, die für die Auskunftsuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist.
(3) Die Auskunftsstellen sind verpflichtet, untereinander und mit den anderen Leistungsträgern mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende Auskunftserteilung durch eine Stelle sicherzustellen.
(4) Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung können über Möglichkeiten zum Aufbau einer nach § 10a oder Abschnitt XI des Einkommensteuergesetzes geförderten zusätzlichen Altersvorsorge Auskünfte erteilen, soweit sie dazu im Stande sind.
§ 16 Antragstellung
(1) Anträge auf Sozialleistungen sind beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Sie werden auch von allen anderen Leistungsträgern, von allen Gemeinden und bei Personen, die sich im Ausland aufhalten, auch von den amtlichen Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland entgegengenommen.
(2) Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, sind unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten. Ist die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in Satz 1 genannten Stellen eingegangen ist.
(3) Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt und unvollständige Angaben ergänzt werden.“
Werden diese Pflichten nicht wahrgenommen und entsteht dem Bürger deshalb ein Schaden, kommt eine Schadensersatzpflicht aufgrund einer Amtspflichtverletzung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG) in Betracht. Daneben kommt im Falle einer fehlerhaften Beratung oder Auskunft neben eventuell bestehenden Amtshaftungsansprüchen unter Umständen auch ein sogenannter sozialrechtlicher Herstellungsanspruch in Frage. Der Betroffene ist dann so zu stellen, wie er stehen würde, wenn die Beratungs- und Aufklärungspflichten ordnungsgemäß wahrgenommen worden wären (Näheres dazu z.B. bei Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann-Greiner, Kommentar zum Sozialrecht, § 14 SGB I Rn. 11 –18, § 15 SGB I Rn. 8).