Dringend: Betreuungsvereine brauchen bessere Finanzierung

Sachverständige sind sich einig: Das System Betreuung hat begonnen zu kollabieren

Selten sind sich Sachverständige so einig – im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zeichneten die Expert*innen aus unterschiedlichen Perspektiven ein klares Bild: Die rechtliche Betreuung ist seit Jahren unterfinanziert, die Aufgaben sind umfangreicher und komplexer geworden, die Kostenexplosion – auch infolge der Inflation – bedroht das gesamte System rechtliche Betreuung in Deutschland. Sie fordern: Die Politik muss jetzt handeln und die Finanzierung sichern.

© Sven Darmer

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Gegenstand der öffentlichen Anhörung war ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Sicherstellung der Finanzierung der Betreuungsvereine und der Betreuer*innen, in dem unter anderem eine „bedarfsgerechte, gleichwertige finanzielle Ausstattung mit öffentlichen Mitteln durch alle Länder“ gefordert wird. Weiter heißt es im Antrag: „Betreuungsvereine leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Umsetzung des Betreuungsrechtes in die Praxis.“ 

Gehört wurden Vertreter*innen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW), der AG Betreuungsrecht des Deutschen Anwaltvereins, der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, des Betroffenenvereins Kellerkinder, der Bundesvereinigung Lebenshilfe sowie eines Betreuungsvereins und der Berufsverbände. Alle Sachverständigen begrüßten den Antrag.

Für den Bundesverband der Berufsbetreuer*innen (BdB) sprachen der Bundesvorsitzende Thorsten Becker und Hülya Özkan, die ein Betreuungsbüro in Bielefeld führt und sich als BdB-Landessprecherin in Nordrhein-Westfalen engagiert. 

Thorsten Becker schilderte in seiner Stellungnahme den Ernst der Lage: Vereine schließen, selbstständige Berufsbetreuer*innen geben auf, qualifizierter Nachwuchs ist nicht in ausreichendem Maß in Sicht, um die Lücken zu schließen. Der Grund: Das gesamte Betreuungswesen sei bereits seit Jahrzehnten unterfinanziert. Die Vergütungserhöhung von 2019 – nach 14 Jahren ohne Anpassung – habe nicht gehalten, was sie versprochen habe. Von geplanten 17 Prozent seien im Mittel nur 12,3 Prozent angekommen. Dies habe eine Studie des BdB belegt. Hinzu käme, dass die schlechten Rahmenbedingungen nun auf die neuen Anforderungen des reformierten Betreuungsrechts treffen. Thorsten Becker: „Sie gehen mit zum Teil erheblichen Mehraufwänden einher. Ich nenne als Beispiel die konsequente Umsetzung der Unterstützten Entscheidungsfindung oder die erweiterten Berichtspflichten. Dies dient den betreuten Menschen und die Ziele der Reform sind von uns ausdrücklich gewünscht. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die neuen Vorgaben weder zeit- noch kostenneutral zu leisten sind.“

Und weiter: „Wir fordern den Gesetzgeber daher auf, für Betreuungsvereine eine verlässliche Finanzierungsgrundlage zu schaffen, die den erweiterten Querschnittsaufgaben gerecht wird. Ebenso ist eine klare Abkehr von der chronischen Unterfinanzierung des gesamten Betreuungswesens notwendig, etwa durch eine grundsätzliche Reform der Betreuungsvergütung.“ Unabhängig davon drängt der BdB auf einen sofortigen Inflationsausgleich in Höhe von 19,3 Prozent. 

Thorsten Becker: „Menschen, die eine beruflich geführte Betreuung in Anspruch nehmen, haben ein Recht auf eine professionelle Leistung. Eine Voraussetzung hierfür sind solide wirtschaftliche Verhältnisse, unter denen diese überhaupt erst möglich gemacht wird. Unter den aktuellen Bedingungen können weder Vereine noch selbstständige Berufsbetreuer*innen dieser wichtigen Aufgabe gerecht werden. Das kann nicht im Sinne der Gesellschaft sein.“ 

Hülya Özkan berichtete den Abgeordneten aus ihrer Praxis. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion sei gut gemeint, komme aber zu spät: „Das System der rechtlichen Betreuung droht nicht zu kollabieren. Es ist bereits kollabiert.“ Kolleg*innen hätten bereits ihre Büros geschlossen, weil sich die freiberufliche Tätigkeit nicht mehr lohne. Ein Betreuungsverein in Bielefeld habe vor Kurzem die Arbeit beendet und ein weiterer Verein stehe kurz vor der Insolvenz. Die Betreuungsbehörden hätten Probleme, Betreuerinnen mit freien Kapazitäten oder überhaupt neue Betreuerinnen zu finden. „Wir Betreuer*innen leisten mehr Arbeit, obwohl wir weniger verdienen“, sagte die BdB-Landessprecherin NRW. Die Kostensteigerungen durch die Inflation, die Energie- und Sachkosten sowie die Erhöhung des Mindestlohns hätten zu weiteren Einbußen geführt: „Um das zu kompensieren, bin ich gezwungen, immer mehr Betreuungsfälle anzunehmen. Unter diesen Umständen kann ich die Qualität der rechtlichen Betreuung nicht gewährleisten, die zu Recht das Ziel der Reform war und ist.“

Alle Sachverständigen appellierten an die Politik in Bund, Land und Kommunen: „Es ist an der Zeit, zu handeln, bevor der Schaden im Betreuungswesen irreparabel wird!“

Mehr Informationen:

www.berufsbetreuung.de | X: @BdB_Deutschland |  BdB-Vergütungskampagne

Pressekontakt:
nic communication & consulting | Bettina Melzer
Tel.: 030 – 34 66 19 41 | mobil: 0163 – 575 1343 | bm@niccc.de | www.niccc.de

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Über den BdB:
Der Bundesverband der Berufsbetreuer*innen e.V. (BdB) ist mit rund 8.000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung des Berufsstandes Betreuung. Er ist die kollegiale Heimat seiner Mitglieder und macht Politik für ihre Interessen. Er stärkt seine Mitglieder darin, Menschen mit Betreuungsbedarf professionell zu unterstützen, ein Leben nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu führen – selbstbestimmt und geschützt. Der BdB wurde 1994 gegründet – zwei Jahre, nachdem mit dem Betreuungsgesetz Konzepte wie „Entmündigung“ und „Vormundschaft“ für Erwachsene abgelöst wurden. Bereits damals leitete ihn der Gedanke, Menschen mit Betreuungsbedarf in Deutschland professionell zu unterstützen, so dass sie ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Mit seiner fachlichen Expertise und viel Idealismus setzte sich der Verband bereits frühzeitig für mehr gesellschaftliche Teilhabe betreuter Personen ein, wie sie erst später gesetzlich verankert wurde. Handeln und Entscheidungen der BdB-Mitglieder basieren auf demselben humanistischen Menschenbild, das auch der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 und der UNBehindertenrechtskonvention von 2006 zugrunde liegt.